Gewaltprävention, Deeskalationsstrategien und Nachsorge nach belastenden Situationen
Einleitende Hinweise
Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern, Betreute in Einrichtungen und Kunden von Ämtern stehen vielfach krankheits- oder situationsbedingt unter Stress und weisen teilweise eine erhöhte Bereitschaft zu aggressiven und unkontrollierten Verhaltensweisen. Wie Publikationen vielfältigster Art zeigen, nimmt dieses Phänomen gesamtgesellschaftlich eher zu.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind mit diesen Menschen im direkten Kontakt und haben dadurch maßgeblich Einfluss, ob eine Situation eskaliert oder beruhigt werden kann. Es gibt ausreichend Belege dafür, dass eine gute Vorbereitung der Mitarbeiter auf diese Situationen und dem Nutzen gezielter Deeskalations- und Kommunikationstechniken viele Situationen entaktualisieren kann. Da diese Techniken nicht immer erfolgreich sein können, ist es wichtig, dass Mitarbeiter sich durch wenige Löse- und Haltetechniken schützen können, ohne dass größere Verletzungen entstehen. Die Handlungskompetenz, die für diese Situationen erworben wird, wirkt sich positiv auf die Resilienz der Mitarbeiter aus.
Zugleich kann die Beobachtung gemacht werden, dass bei der Anwendung dieser Techniken das Milieu aufgewertet wird und die gegenseitige Achtsamkeit sich erhöht und sich so die Arbeitsbedingungen verbessern.
Komplettiert wird ein Deeskalationsmanagement durch die Nachsorge, die idealerweise von den Deeskalationstrainern wahrgenommen wird. Ihre Aufgabe ist es dann Mitarbeiter zu Hilfemöglichkeiten zu informieren und diese bei den nötigen Formalitäten zu unterstützen, sowie Rückschlüsse für evtl. Veränderungen der Aufgabenerfüllung zu identifizieren, die wiederum in die Gestaltung der Arbeitssicherheit durch Beauftragte und Vorgesetzte einfließen.
Ziele der Trainerausbildung
Die Deeskalationstrainer bereiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf Eskalationen, Gewaltausbrüche und belastende Situationen vor.
Kommunikationstechniken und Deeskalationsstrategien sind den Mitarbeitern bekannt und deren Anwendung geübt.
Zu tätlichen Übergriffen vermitteln die Deeskalationstrainer den Mitarbeitern angemessene Löse- und Haltetechniken und üben diese regelmäßig mit den Mitarbeitern.
Die Deeskalationstrainer werden befähigt zur Nachsorge von belastenden Ereignissen.
Mitarbeiter kennen durch die Betreuung der Trainer ihre Möglichkeiten und Grenzen, so dass deren Resilienz gefördert wird.
Die Deeskalationstrainer identifizieren übergeordnet Situationen und Bedingungen, bei denen vermehrt Aggressionsereignisse entstehen und koppeln dieses mit den Fachkräften für Arbeitssicherheit und Leitungskräften rück.
Die Deeskalationstrainer können Leitungskräfte und Mitarbeiter zur Thematik beraten.
Entwicklung der Konzeption der Deeskalationstrainerausbildung
Alles begann im Jahr 1998 mit dem Bemühen der damaligen Betriebsleitung der LWL-Klinik Münster, die rasant angestiegenen gewaltsamen Patientenübergriffe auf Mitarbeiter zu reduzieren. Die Analyse der Gefährdungsbeurteilungen ergab, dass vor allem die Angriffe auf Pflegepersonal zunahmen. In der Psychiatrie sind Mitarbeiter während Ihres Arbeitsalltages regelmäßig mit Menschen konfrontiert, die krankheits- und situationsbedingt unter Stress stehen und auch evt. eine höhere Bereitschaft haben aggressiv und unkontrollierte Verhaltensweisen zeigen. Um Mitarbeiter vor Übergriffen zu schützen und auch den Umgang mit Patienten konfliktärmer zu gestalten, wurde eine nachhaltige Verbesserung der Stationsmilieus durch die Betriebsleitung der LWL-Klinik Münster angestrebt. Das wurde durch vielfältige Maßnahmen, u.a. durch intensive Schulung der Mitarbeiter umgesetzt.
Im Juni 1998 vereinbarten der Polizeipräsident Münster und der Leiter der LWL-Klinik Münster in einem Gespräch die Entwicklung eines Konzeptes zur Gewaltprävention und ein flächendeckendes Training „Deeskalation – professioneller Umgang mit Gewalt und Aggression“ als Regelfortbildung zu installieren. Erfahrene Lehrtrainer der Fortbildungsstelle der Polizei Münster entwickelten in Zusammenarbeit mit dem Fortbildungszentrum und der Pflegedirektion der LWL-Klinik Münster ein für Einrichtungen im Gesundheitswesen entsprechende Seminar-Curriculum.
Schon nach kurzer Zeit wurde deutlich, dass es nachhaltiger ist, eigene Trainer als Multiplikatoren auszubilden. Wieder in Zusammenarbeit mit den Trainern des Polizeipräsidiums Münster, die mit Engagement, Fachlichkeit und Idealismus wurde ein qualifiziertes Programm entwickelt aus den Ergebnissen der gemeinsamen Ursachenforschung.
Dankenswerterweise unterstützten die beiden Gemeindeunfall-Versicherungsverbände Westfalen Lippe und Rheinland (heute Unfallkasse NRW) und Prof. Dr. Dirk Richter als damaliger Qualitätsmanager der LWL-Klinik Münster (heute Professor in Bern/Schweiz) durch seine Studien zur Thematik, die Entwicklung der Konzeption der Ausbildung zum Deeskalations- und Schutztechnikentrainer.
Die durch uns geschulten Mitarbeiter, die zu Deeskalation- und Schutztechniktrainern ausgebildet wurden, absolvieren ein 21-tägiges Schulungsprogramm mit persönlichem Coaching und abschließende Prüfung.
Aufgrund des Länderübergreifenden Interesses erfolgten im Zuge von Evaluierung und Optimierung inhaltliche Ergänzungen und eine Neuorientierung in Bezug auf die Zielgruppe der Mitarbeiter in Einrichtungen des Gesundheitswesens.
Jährliche Up-Date-Schulungen der Deeskalations- und Schutztechniktrainer wurden von Absolventen angefragt und daraufhin entwickelt und seitdem erfolgreich angeboten.
Auf Anregung der Führungskräfte der LWL-Klinik Münster wurde im Jahr 2011 erkannt, dass eine Überarbeitung der Ausbildung zum Schutztechniktrainer erforderlich ist. Der präventive Schutz von Patienten und Pflegepersonal sollte ständiger Begleiter der täglichen Arbeit im Stationsalltag sein. Das gemeinsame Erarbeiten von professionellem Umgang mit eignen Stressbewältigungsstrategien, erlernen deeskalierender Kommunikation, erstellen von individuell auf die Einrichtung angepasste Handlungspläne im Ernstfall, regelmäßiger Trainings und koordiniertes Handeln alleine und im Multiprofessionellem Team, angemessene und sachlich Ausstattung der Stationen sowie ein angenehmes Betriebsklima begünstigen, dass Aggressionen im Idealfall vermieden werden bzw. in letzter Konsequenz professionell behandelt werden.
Die durch uns ausgebildeten Deeskalations- und Schutztechniktrainer werden angeregt für Ihre Einrichtung ebenfalls ein Konzept mit den Betriebsleitungen und Arbeitssicherheitskräften zu entwickeln, wie die Nachsorge der Mitarbeiter nach belastenden Situationen erfolgen soll. Zu der Thematik haben die Unfallkassen und Berufsgenossenschaften Schulungskonzepte entwickelt.
Inhalte und Ziele der Trainerausbildung
1. Deeskalationstrainerausbildung (120 Stunden)
Die Teilnehmerinnen und Teilnnehmer kennen
- die Probleme im Umgang mit Gewalt und Aggressionen in der psychiatrischen Pflege und der Behandlung von Patienten
- die Studienlage zu Gewalt und Aggression und Angebote zur Aufarbeitung und Prävention von Gewalterfahrungen sowie Risikoeinschätzung
- und analysieren Probleme in der eigenen Einrichtung anhand von Gefährdungsbeurteilungen, sichten und bearbeiten betriebliche Präventionskonzepte in Kooperation mit ihren Führungskräften und dem Arbeitsschutz vor Ort
- Standards des betrieblichen Sicherheitsmanagements in der eigenen Einrichtung und bei speziellen Problemstellungen können Sie Lösungsansätze mit erarbeiten
- wissen, wann Konflikte und Aggressionen entstehen
- Aggressionsmanagement in Ihren Einrichtungen und psychosoziale Hilfestellungen vor Ort
- Aggressionstheorien und können sie praxisgerecht anwenden
- und erkennen Aggressionspotential, entwickeln Sensibilität und wirken durch die Anwendung von Konfliktstrategien reduzierend ein
- persönlichkeits- und entwicklungspsychologische Aspekte im Umgang mit psychisch kranken Menschen
- ethische Grundhaltungen zu Gewalt und Aggression
- Deeskalationsmodelle (Stress- und Konfliktbewältigung) und können sie anwenden
- und beherrschen Kommunikations-, Verhandlungs- und Rhetoriktechniken, die insbesondere im Umgang mit psychisch Kranken anwendbar sind
- die Grundlagen der Pädagogik und können methodisch-didaktische Mittel der Erwachsenenbildung anwenden
- und können die Moderationsmethoden sowie andere Lehr- und Lernmethoden anwenden
- und können die Seminarsequenzen für das durchzuführende Mitarbeiter-Seminar umsetzen.
Die Seminarteilnehmer werden durch die Lehrtrainer persönlich gecoacht und geprüft.
2. Schutztechniktrainerausbildung (48 Stunden)
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kennen
- deeskalierende Kommunikation als Mittel der ersten Wahl zur Vermeidung einer körperlichen Auseinandersetzung
- Situativ angepasste deeskalierende Kommunikation mit den Patienten
- Zusammenarbeit und Kommunikation im Multiprofessionellem Team, taktische Grundsätze der Teamarbeit sowie Arbeitsplatzsicherheit
- Rechtliche Rahmenbedingungen zu freiheitsentziehende Massnahmen
- Halten als Deeskalationsstufe
- Halten im Stand, sitzend und liegend
- Transport einer Person
- Übergang in eine erforderliche Fixierung
- Vermeidung eines Positional Asphyxia Syndroms
- Vermeidung von Schmerzen bei Patienten
- Schutz vor plötzlichen Angriffen
- Evaluierte Grifflösetechniken
- Planung und Durchführung von Trainings mit Mitarbeitern
- Training unter möglichst realistischen Rahmenbedingungen und kollegiale Beratung der Mitarbeiter in Bezug auf präventive Massnahmen.
Die Seminarteilnehmer werden durch die Lehrtrainer persönlich gecoacht und geprüft.
3. Up-Date Seminare für ausgebildete Trainer (32 Stunden)
Ein derartiges erworbenes Wissen bedarf immer wieder der Auffrischung und Überprüfung um nachhaltig verankert zu bleiben. Im Seminar soll es um eine Wiederauffrischung und Überprüfung des Erlernten gehen; z. B. mit dem Schwerpunkt: Verhandlungstaktiken, Umgang mit Störungen durch Seminarteilnehmer, die Vertiefung und Ergänzung von Halte- und Lösetechniken.
Die Praxistransferreflexion soll den Teilnehmern Sicherheit geben das Erlernte gezielt vor Ort in der eigenen Einrichtung einzubringen bzw. zu aktualisieren.
Die Teilnehmer der Up-Date Seminare sind aufgefordert gewünschte Inhalte im Vorfeld anzugeben.
Nachbesprechung belastender Situationen
Besonders belastende Situationen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind massive Körperliche Übergriffe und Fremdgefährdungen, aber auch umfangreiche Selbstverletzungen bis zum Suizid. Hier gilt der Grundsatz der möglichst frühen Hilfestellung für die betroffenen, da eine frühzeitige Aufarbeitung Schuldgefühle reduziert, psychische Folgeschäden vermieden werden und im Bedarfsfall weiterführende Hilfe schnell vermittelt werden kann. Es ist das Ziel, aufgrund der gemachten Erfahrung Verbesserungspotentiale am aktuellen Beispiel in Bezug auf deeskalierende Kommunikation, Organisation unter Einbeziehung der Abteilungsleitungen und evt. Handhabung von Schutztechniken zu erkennen.
05. Mai 2020
Ingrid Feldkamp
Leitung des Fortbildungszentrums der LWL-Klinik Münster